Sie hat sich als Protagonistin in „Schwarzes Meer“ von Irina Kastrinidis in der Inszenierung von Frank Castorf dem Publikum des Landestheaters bekannt gemacht und zuletzt als Prof. Higgins in „Pygmalion“ und als Mascha in „Drei Schwestern“ ihren tiefgründigen Humor und ihre Menschenkenntnis unter Beweis gestellt.
Julia Kreusch ist, nach Jahren im Ensemble des Schauspielhauses Zürich und am Volkstheater Wien, ab dieser Spielzeit 2023/2024 fest im Ensemble des Landestheaters Niederösterreich. Wie viel der Schauspielberuf und die Erarbeitung eines Stücks mit Verstellung, wie viel mit Wahrhaftigkeit zu tun hat, darüber spricht Julia Kreusch im Interview:
Schauspielerei braucht Verstellung und ebenso Wahrhaftigkeit. Wie würdest Du deren Verhältnis beschreiben?
Ich denke, das kommt stark auf die Spielerin oder den Spieler an. Ich persönlich mag den Begriff Verstellung grundsätzlich nicht. Wahrhaftigkeit und das sogenannte ‚Sein‘ in der jeweiligen Figur beim Spielen erzeugen ein Höchstmaß an Freiheit zur Gestaltung, jenseits jeglicher Verstellung.
Würde sich Alceste in der Theaterszene wohlfühlen oder könnte er dort zu viel Heuchelei entdecken?
Ich denke die Theaterszene befindet sich im stetigen Wandel und ist bemüht um mehr Transparenz und Ehrlichkeit, nur, das ist noch ein weiter Weg. Wenn Alceste aber das Glück hätte, auf aufrechte, starke, herzliche, ehrliche Künstler*innen in der Theaterarbeit zu treffen, dann würde er sich sicher pudelwohl fühlen!
Wie viel Lob, wie viel Kritik braucht es in der Theaterarbeit und auf Proben?
Ich persönlich brauche in der Arbeit keine ständige Bestärkung. Nur bedingungslose schonungslose Ehrlichkeit. Das ist für mich essenziell.
Hast Du bereits Molière gespielt?
Ich bin absoluter Molière-Neuling und freue mich seine Welt kennenzulernen!
Wir stehen noch zu Beginn der Proben, aber: Was magst Du an Alceste? Beziehungsweise was verstehst Du gut an seiner Sicht auf die Dinge?
Dass Heuchelei einen in den Wahnsinn, in die Verweigerung und den kompletten Rückzug treiben kann, verstehe ich sehr, sehr gut.
Wir verwenden die gereimte Fassung von Jürgen Gosch und Wolfgang Wiens. Was kann man als Schauspielerin aus der Reimform herausziehen?
Ich empfinde das Sprechen in Reimform als musikalisch, als rhythmische Welle, von der man sich im besten Falle einfach mitreißen lässt.
Über Molières „Der Menschenfeind“
Molieres „alter ego“ und Held der Geschichte namens Alceste ist ein Wahrheitsfanatiker. Er fordert von den Menschen absolute Ehrlichkeit. Seine Utopie ist eine Gesellschaft ohne Heuchelei und eine Politik ohne Lügen. Doch er wähnt sich allein mit seinem moralischen Anspruch.
Selbst bei seinem engsten Freund Philinte entdeckt er falsches Lob ihm gegenüber und kleine Lügen. Am schlimmsten aber trifft es ihn, dass seine Angebetete Célimène sich so viel aus Partys macht, dass sie den Tratsch liebt und die selbsternannte bessere Gesellschaft täglich bei sich zu Gast hat.
Das ist die Ausgangssituation für eine komplizierte Liebesgeschichte mit Irrungen und Wirrungen. Als Alceste das Gedicht eines eitlen jungen Mannes mit seiner Kritik in Grund und Boden vernichtet, eskaliert die Situation.
Als Mann aus dem Bürgertum wurde der einflussreichste französische Komödiendichter zwar von König Ludwig XIV. finanziert und protegiert, doch Molière weigerte sich, sich an die kriecherischen und allzu glatten Umgangsformen bei Hof anzupassen.
Sein „Menschenfeind“ wirft satirische Blicke auf die moralisch deformierte High-Society und durchleuchtet ihre Funktionsweisen. Wie hier Lob und Zuneigung verteilt wird, spiegelt die Dauer-Schmeichelei in den sozialen Medien. Auf den gesellschaftlichen Grundwerten, die „Der Menschenfeind“ befragt, beruht auch heute die Glaubwürdigkeit von Politik.
Zugleich zeichnet Molière mit seiner Charakterkomödie das Porträt eines starrköpfigen Pedanten, der mit seiner Prinzipienreiterei und seiner vermeintlichen moralischen Überlegenheit sein Umfeld vor den Kopf stößt und an seiner Liebesbeziehung rüttelt.
Mit furiosem Sprachwitz und rasanten Rededuellen wird der Anti-Held Alceste von seinem Autor selbstironisch demontiert, so dass am Ende nicht eine Wahrheit übrigbleibt, sondern der Apell zu weniger Dogmatismus und mehr Offenheit im menschlichen Miteinander nachhallt.