„Im allerdunkelsten Moment Menschlichkeit zu bewahren“
Ein Gespräch mit Prof. Christine Frank über biografische Hintergründe, Aichingers starke weibliche Familie, die Verfolgung durch den Nationalsozialismus und die Kinderperspektive in „Die größere Hoffnung“.Ilse Aichinger war Mitte zwanzig, als sie „Die größere Hoffnung“ veröffentlichte. Wo stand sie mit ihrem literarischen Schreiben?
Aichinger hat sich innerlich schon früh für das Schreiben entschieden. Erste Ansätze reichen zurück bis in ihre Kindheit, in die Zeit noch vor den Trennungen, den Verfolgungen und dem Krieg. Als Österreich Teil des nationalsozialistisch regierten großdeutschen Reiches wurde (1938), war Aichinger noch Schülerin. Nach der Matura 1939 durfte sie als Tochter einer jüdischen Ärztin nicht studieren; während des Krieges war sie zwangsverpflichtet. Die schlimmen Jahre zu überstehen, half ihr das Schreiben – erhalten sind neben persönlichen Tagebuchaufzeichnungen auch Ansätze zu essayistischer Prosa und vor allem Gedichte.
Eine handgeschriebene Auswahl daraus schenkte sie ihrem Vater Ludwig Aichinger während der Kriegsjahre zu Weihnachten. Der Vater, von dem Aichinger selbst später immer nur erwähnte, dass er Fachlehrer in Linz gewesen war, hatte sich selbst in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts als Schriftsteller, als Journalist und Theaterkritiker, als Herausgeber einer Anthologie deutsch-österreichischer Literatur und einer Theater-Zeitschrift in Linz und darüber hinaus einen Namen gemacht. Er unterstützte die Ambitionen seiner Tochter bis zu seinem Tod 1957 mit vollen Kräften.
Als sich Aichinger nach Kriegsende entschloss, ihre Erfahrungen niederzuschreiben, lagen bereits Ansätze zu einzelnen Teilen des späteren Romans vor. Das Kernstück bildete ein Weihnachtsspiel, das Aichinger für die Jugendlichen geschrieben hatte, die sich während des Krieges in der Erzbischöflichen Hilfsstelle für nichtarische Christen (so die offizielle Bezeichnung), einem Kreis um Pater Ludger Born, regelmäßig trafen. Es wurde dort auch zu Weihnachten 1944 uraufgeführt.
Im Roman ging das Stück in das Kapitel „Das große Spiel“ ein. Aichingers erste Veröffentlichung nach dem Krieg war dann der kurze Prosatext „Das vierte Tor“; er erschien am 1. September 1945 in einer Wiener Zeitung. Hier greift Aichinger ebenfalls eine Szene auf, die sich im Roman wiederfindet: es geht um die Kinder, die auf dem Jüdischen Friedhof spielen, weil ihnen andere öffentliche Orte zu betreten verboten ist, und die sich keine Illusionen über ihr Schicksal machen.
Wie ist aus den einzelnen Teilen „Die größere Hoffnung“ entstanden und wie ist der Roman zum Verlag gekommen?
Aichinger hat dann aus ihren früheren Aufzeichnungen und Entwürfen sehr zielstrebig und in großer seelischer und körperlicher Anstrengung in relativ kurzer Zeit einen Roman geschaffen, der sich von ihren anderen Publikationen der ersten Nachkriegsjahre deutlich unterschied. Sie setzte alles auf diese eine Karte, nicht nur, um sich mit dem Geschehenen auseinanderzusetzen. Sie wollte tatsächlich ein Buch publizieren, um damit Geld zu verdienen – das Geld, das sie dringend benötigte, um endlich gemeinsam mit ihrer Mutter die ersehnte Reise nach England antreten zu können, und ihre Zwillingsschwester Helga und ihre Tante – die nach England emigrierten einzigen weiteren Überlebenden der Familie – wiederzusehen.
Durch ihre kurzen Zeitungstexte war Aichinger im sich gerade erst wieder neu formierenden österreichischen Literaturbetrieb aufgefallen. Hans Weigel berichtet, dass er persönlich Aichinger mit dem Verlegerehepaar Brigitte Bermann-Fischer und Gottfried Berman zusammengebracht habe, die im Sommer 1947 erstmals seit Kriegsende wieder nach Europa gekommen waren und die sich kurze Zeit in Wien aufhielten, um hier ihren Verlag wieder neu aufzubauen. Wenige Begegnungen mit Ilse Aichinger hatten genügt, um das Ehepaar zu überzeugen, sich des fast fertigen Romans anzunehmen. Aichinger sandte das Manuskript im November 1947 an den Verlag; im Januar 1948 erreichte sie die Zusage von Bermann-Fischer, dass der Verlag das Buch drucken werde. Es kam dann noch im selben Jahr heraus.
Wie wurde der Roman nach der Veröffentlichung rezipiert?
Der Roman war keine literarische Sensation. Im Nachhinein wurde immer wieder betont, auch von Aichinger selber, dass die Erstauflage nur geringen Absatz fand und insbesondere in Österreich kaum greifbar war. Immer wieder aber erschienen in den Folgejahren Ausschnitte aus dem Roman in Tageszeitungen und diversen Anthologien. Dadurch prägte sich der Text gerade so, über die Intensität einzelner Szenen, den LeserInnen ein. Erst 1952 erhielt die Autorin für ihr Werk den Förderungspreis der Österreichischen Staatspreise. Mit dem Roman hatte sich Aichinger einen Platz unter den ersten AutorInnen Österreichs gesichert.
Während der 1950er Jahre wurde Aichinger zunächst jedoch mehr über ihre Kurzgeschichten wahrgenommen, die vielfach auch Aufnahme in Schulbücher fanden. Das änderte sich nach dem Erscheinen der überarbeiteten Neuauflage des Romans, die 1960 herauskam. Auf diese Fassung gehen alle weiteren unterschiedlichen Ausgaben zurück, in denen der Roman seither erschienen ist.
Welche Position nimmt „Die größere Hoffnung“ heute literaturgeschichtlich ein?
Obwohl Aichinger von den 1950ern bis in die späten 1970er Jahre hinein ein komplexes literarisches Werk verfasst hat, das Texte in verschiedenen Gattungen und in innovativen Schreibweisen umfasst, ist sie bis heute hauptsächlich als Autorin von „Die größere Hoffnung“ bekannt. Es ist der Roman, der Aichingers Ort in der österreichischen Literaturgeschichte markiert Bis heute gilt er als eines der kanonischen deutschsprachigen Werke der sich erst viel später entfaltenden Holocaust-Literatur. Während Holocaust-Überlebende wie Ruth Klüger „Die größere Hoffnung“ uneingeschränkt schätzten („eins meiner Lieblingsbücher“), wurde von manchen Wissenschafter*innen gelegentlich auch Kritik an Aichingers vermeintlich verharmlosender Darstellung aus Kinderperspektive geäußert.
In ihren Augen hält der Roman dem Vergleich mit den Berichten jener, die die Internierung im Konzentrationslager überlebt hatten und davon Zeugnis ablegten, wie etwa der österreichische Autor Jean Améry, nicht stand. Ein solches Argument verkennt die unvergleichlich andere Situation, die Aichingers Roman zugrunde liegt. Hier ging es um die Frage, wie die Menschen mit der jahrelangen Bedrohung von Verschleppung und Ermordung umgingen, wie sie die Verzweiflung in den Selbstmord trieb und wie ein junger Mensch wie die Protagonistin Ellen gegen die menschliche Depravation anrannte.
Welche Bedeutungen haben Kindheit und Spiel in „Die größere Hoffnung“ und generell für Ilse Aichingers Schreiben?
Im Spielen widersetzen sich die Kinder dem System der Vernichtung. Es ist ein gemeinsames Spielen, in dem Gemeinschaft gestiftet, erlebt und ausagiert wird. Einerseits imitiert das Spiel Vorgaben der Erwachsenenwelt, etwa wenn die Kinder zu Beginn auf ein ertrinkendes Kind warten, das sie retten wollen, um selbst gerettet zu werden.
Sie erproben ein gesellschaftliches Muster, dessen Verbindlichkeit aber längst aufgegeben wurde. Die Grenzen zwischen Spielen und grausamer Realität werden durchlässig. Es ist eine Art nicht von Re-enactment sondern Pre-enactment, wie etwa im zentralen Kapitel „Das große Spiel“:
Indem die Kinder das Spiel von der Geburt des christlichen Retters spielen, erleben sie nur umso verzweifelter das Ende der Geschichte; das große Spiel mündet ja in ihre Deportation. Dennoch hält Aichinger an der Heilsbotschaft fest, an der Notwendigkeit der Idee von Frieden, Anerkenunng des Anderen, Gemeinschaft.
Es gibt verschiedene Interpretationen des Titels. Wie würden Sie „die größere Hoffnung“ definieren?
Die „größere Hoffnung“ lässt sich nicht definieren. Es ist so etwas wie der andere Zustand – eine innere Einstellung, eine Haltung, die man entweder gewinnen kann, gewonnen hat, oder die man nie erreichen wird. Sie hat, wie Aichinger immer wieder betonte, nichts mit der Hoffnung zu überleben zu tun. Es ist etwas Größeres als das. Aichinger beschreibt in einer späteren Reminiszenz eine Szene ihres eigenen Erlebens während des Krieges, in der eine „größere Hoffnung“ auf sie ‚übersprang‘. Es war die Nachricht von der Exekution der Widerstandskämpfer der „Weißen Rose“ im Frühjahr 1943.*
Sophie Scholl ist im selben Jahr geboren wie Ilse Aichinger. Ihre Entschlossenheit wurde für Aichinger zum Maß einer inneren Haltung, die ihr letztlich doch das Überleben ermöglichte: Überleben als menschlich gebliebene Person, die auch die Taten der Nationalsozialisten weder korrumpieren noch sie stumpf werden ließ für die Leiden der anderen. Im Roman wird dies deutlich in der Figur der Anna, die den Kindern eine andere Bedeutung des Sterns zu vermitteln versucht; vor allem aber in der Gestalt Ellens, die das System immer wieder auszuhebeln versucht.
*Über Ilse Aichinger und die Geschwister Scholl: C. Ivanovic: Ilse Aichinger in Ulm, 2011.
Ilse Aichingers Mutter war jüdischer Herkunft. Welche Bedeutung hatte der Antisemitismus, der in Wien schon lange vor dem Krieg sehr stark war, für die Familie?
Einige der jüdischen Verwandten von Ilse Aichinger waren getauft, und auch die nicht getauften Familienmitglieder praktizierten den jüdischen Glauben nicht. Es war eine bürgerliche, kaisertreue österreichische Familie. Die Mutter und ihre Geschwister hatten studiert oder eine Berufsausbildung.
Antisemitischem Ressentiment waren sie dennoch immer ausgesetzt gewesen, sei es, dass die jüdische Herkunft die Berufung des Großvaters auf höhere militärische Ränge (er war Hauptmann gewesen) verhindert hatte oder sei es, dass die Mutter, die die Schule von Eugenie Schwarzwald besucht und dann an der Universität Wien Medizin studiert hatte, immer wieder als Frau und Jüdin Ressentiments ausgesetzt gewesen war. Gerade sie, die eine sehr energische, zielstrebige und ehrgeizige Frau war, hatte sich dagegen selbstbewusst zur Wehr gesetzt.
Ähnliches galt für ihre Geschwister, die Fremdsprachensekretärin Klara Kremer, die Pianistin Erna Kremer und den Chemie-Ingenieur Felix Kremer. Seit der Übernahme der Nürnberger Rassegesetzgebung gab es für sie jedoch keine Überlebenschance mehr.
Wohl am meisten verletzt hat die Familie die ausbleibende Solidarität der christlichen Ehefrau von Felix Kremer, die sich aus ideologischen Gründen von ihm scheiden ließ und ihn damit der Deportation preisgab.
Weiß man, wie es sich entschieden hat, dass die eine Zwillingsschwester Helga nach London geht und Ilse in Wien bleibt, um die Mutter Berta zu schützen?
Die nach England geflüchtete Tante Klara Kremer konnte nur für einen der beiden Zwillinge einen Platz in einem Kindertransport organisieren. Die beiden Mädchen hatten sich bis zum Zeitpunkt der Entscheidung sehr verschieden entwickelt. Ilse war die bessere Schülerin und galt insgesamt als stärker, zeigte sich aber auch der Mutter enger verbunden. Helga hat später mehrfach betont, Ilse wäre nie bereit gewesen die Mutter zu verlassen. Es wird gesagt, dass Ilse bereit war, im Falle einer Deportation auch von Berta Kremer die Mutter zu begleiten.
War Ilse Aichinger während des Krieges selbst auch bedroht?
Im Prinzip hätte auch sie jederzeit verhaftet werden können. Diese Situation kommt in der „Rede unter dem Galgen“ zum Ausdruck. Ilse Aichinger hat später mehrfach darüber gesprochen, dass sie jahrelang mit der Verhaftung rechneten und auf den Tod gefasst waren.
In „Die größere Hoffnung“ geht es zentral um eine weibliche Familie, Großmutter – Mutter – Ellen. Hat die Matrilinearität eine weiterführende Bedeutung?
In der Familie von Berta Kremer waren die Frauen ihrer Generation stark, gut ausgebildet, selbstbewusst, energisch. Der Großvater war schon vor dem sogenannten Anschluss verstorben, die Familie Aichinger lebte seit 1927 getrennt vom Vater. Dadurch kam es zu einer Dominanz weiblicher Bezugspersonen jüdischer Herkunft.
Die starke emotionale Bindung an die Großmutter Gisela wurde dadurch verstärkt, dass die Zwillinge während ihrer frühen Schulzeit bei ihr lebten, als die Eltern schon getrennt waren und die Mutter noch in Linz arbeitete (1927 bis 1929). Die Mutter war eine Kämpfernatur, die sich seit der Trennung weitgehend allein um die Kinder kümmern und für deren Unterhalt sorgen musste.
Wie ist das Verhältnis von Fiktionalität und autobiografischen Anteilen in „Die größere Hoffnung“?
Der Roman kann nur sehr bedingt „autobiografisch“ genannt werden, und „autofiktional“ im heute so üblichen Sinne verfährt er schon gar nicht. Ja, Aichinger war zum Zeitpunkt des sogenannten Anschlusses 16 Jahre alt und sie hat die Emigration wie die Deportation von Angehörigen und Freunden miterleben müssen.
Die wichtige Figur Anna geht auf eine wirkliche Bekannte Aichingers zurück, die sie in späteren autobiographischen Texten zweimal namentlich erwähnt. Wenngleich viele Details auf Aichingers Erleben während dieser Zeit zurückgeführt werden können, sind doch die für sie zentralen Ereignisse – die Trennung von der Schwester, die Deportation der Großmutter – nicht direkt im Roman angesprochen worden.
Gerade am Kapitel vom Tod der Großmutter kann man sehen, wie Aichinger versucht, den problematischen Kern der damaligen Situation herauszuarbeiten und nicht die eigene Lebensgeschichte darzulegen.
Es geht dabei weniger um die innere Welt, als um die – ganz analytisch bearbeitete – Frage, wie die Menschen mit der von außen an sie herangetragenen Bedrohung umgegangen sind, welchen Spielraum im buchstäblichen Sinne sie noch hatten.
Und immer argumentiert Aichinger dafür, noch im allerdunkelsten Moment Menschlichkeit und Solidarität mit der Kreatur zu bewahren, sich nicht korrumpieren zu lassen. Diese Haltung ist vielleicht weniger spektakulär als der offene Widerstand. Aber sie ist eine Grundbedingung dafür, nicht nur physisch zu überleben, sondern der seelischen Depravation zu entgehen und nach Kriegsende weiterleben und menschlich miteinander umgehen zu können.
Sind die christlichen Motive und Bilder der „größeren Hoffnung“ mit Ilse Aichingers Leben verbunden? Welchem Glauben hat sich Ilse Aichinger verbunden gefühlt?
Ilse Aichinger und ihre Schwester waren wie ihre Eltern katholisch getauft und besuchten solange dies möglich war, bis September 1938, katholische Schulen (Sacré-Cœuer und St. Ursula). Eine jüdische Erziehung oder religiöse Praxis gab es in der Familie damals nicht. Der christliche Glaube bot Aichinger vor allem während der Kriegszeit wesentlichen Halt.
Die Mutter besuchte wann immer es ging den Gottesdienst und für Aichinger spielte die Zuwendung zur christlichen Heilsbotschaft sowohl in ihrem Schreiben wie in den Unterstützungsangeboten der Schwedischen Mission und der Hilfsstelle für nichtarische Christen im erzbischöflichen Palais eine wesentliche Rolle dabei, diese Schreckenszeit zu bewältigen.
Aichingers während des Krieges verfassten Gedichte sind voller Bekenntnisse zur christlichen Heilsbotschaft. Das Kapitel vom „Tod der Großmutter“ in „Die größere Hoffnung“ endet nicht zufällig mit der verzweifelten Taufe der bereits Gestorbenen. Der Kontrast dieses Kapitels zum – für Aichinger unfassbaren – Verschwinden und endgültigen Verlust ihrer realen Großmutter ist immens.
Was hier passiert war, entzog sich dem Verstehen und ließ sich für Aichinger lange nicht beschreiben. Erst Jahre später, in der Erzählung „Mein grüner Esel“, findet sie einen Ausdruck dafür.
Sie sprechen hier die Deportation der Großmutter an, die Ilse Aichinger miterlebt hat. Können Sie diese Situation bitte für uns beschreiben? (Sehen Sie eine motivische Verbindung der Schwedenbrücke zur Brücke am Ende von „Die größere Hoffnung“?)
Im Mai 1942 war klar, dass erneut Deportationen in größerem Umfang stattfinden würden. Ilse Aichinger und ihre Mutter lebten zu diesem Zeitpunkt bereits zwangsweise getrennt von den jüdischen Mitgliedern der Familie, die zuletzt in einem Schulgebäude in der kleinen Sperlgasse mit tausenden anderen jüdischen Bürgern Wiens zusammengepfercht wurden.
Als Aichinger von der mutmasslichen Deportation der Verwandten erfuhr, versuchte sie zu ihnen zu gelangen, kam aber nur bis zur Schwedenbrücke, wo sie sich unter einer Menge von Schaulustigen wiederfand, die die Transporte teilweise bejubelten. Aichinger erkannte auf einem der offenen Lastwagen ihre Großmutter.
Jemand auf dem Wagen soll gerufen haben „Schau, da ist die Ilse“, die Großmutter aber hat sie nicht mehr gesehen. Dieser Moment wurde für Aichinger zu einer traumatischen Szene, die sie in ihren Texten immer wieder bearbeitet hat. Dass der Tod der Großmutter im Roman trotz der Umstände, die ihn erzwangen, ein selbstbestimmter Tod war, ist sicher eine Antwort auf die reale Deportation gewesen, eine Art Restitution ihres freien Willens.
Die Schwedenbrücke ist während des Kriegs zerstört worden, einen Weg zurück, eine Umkehr des Geschehenen gibt es nicht. Ellens im Fortgang des Romans zur fixen Idee sich verdichtendes Streben zu den Brücken, der letzten Verbindung zu den für immer Verlorenen, ist Ausdruck ihrer Sehnsucht nach Georg, nach den Deportierten und Ermordeten, ihren Freunden, ihresgleichen.
Als Hans Werner Richter Ilse Aichinger 1952 in Wien besuchte, um sie und Ingeborg Bachmann zum Frühjahrstreffen der Gruppe 47 einzuladen, hat sie ihn in der Stadt herumgeführt und ihm auch die Stelle gezeigt, wo sie die Großmutter zum letzten Mal gesehen hatte. Aichingers Geste war Richter damals vielleicht so unverständlich, weil das, was hier geschehen ist, an sich so unbegreiflich ist.
Heute ist auf der Brücke in einer wunderbaren, von Josef Winkler und Kurt Neumann initiierten und von Aichingers Schwiegertochter Elisabeth Eich ausgeführten schlichten Installation eines der bewegendsten Gedichte von Ilse Aichinger zu lesen, in dem die Großmutter noch einmal zur Sprache kommt, Winterantwort. Dieses Gedicht Wort für Wort abschreitend, kann man den Weg immer wieder noch einmal gehen, im Gedenken an das damals dort Geschehene. Es sind ihre Worte, die die Brücke bilden.
Im Roman bittet Ellen die Großmutter, ihr eine Geschichte zu erzählen, gewissermaßen als Überlebensstrategie. War das Geschichten-erzählen wichtig in der Familie?
Das scheint so. Ilse Aichinger erwähnt in einem Erinnerungstext aus ihrer Kindheit in Linz das grüne Märchenbuch, das schon bald auf dem Boden liegen blieb, weil die Märchen erzählt wurden. Im Erzählen wird ein kritischeres Zuhören gefordert als im Vorlesen. Vieles in Aichingers Schreibweise lässt sich darauf zurückführen.*
*Mehr dazu in C. Ivanovic: Das grüne Märchenbuch aus Linz, 2021
Welche realen Orte sind Vorbild für die Orte in „Die größere Hoffnung“?
Man kann einige Orte des realen Wien im Roman wiedererkennen – die Gegend um den Franz-Josefs-Kai, wo Aichinger lebte; den Stephansdom; den Stadtpark. Auch sind Szenen wie der geplünderte Schlachthof von der Autorin in späteren autobiographischen Reminiszenzen nochmals erzählt worden, so dass sich das Romangeschehen deutlich in Wien lokalisieren lässt.
Waren Friedhöfe tatsächlich Ausweichplätze für die verbotenen Spielplätze und Parks?
Der Friedhof wird von Aichinger als Ort des Friedens dargestellt – und ist von ihr auch als solcher real erlebt worden – , wo sich die Kinder unter den Toten befinden als den friedlicheren Menschen, die den Lebenden nichts mehr antun können. Er wird zum Gegenbild der sie bedrohenden Lebenswelt. Gleichzeitig wird der Friedhof als Ort des sprießenden Lebens (der Natur) dargestellt, einer Natur, die den Betrug, wie ihn schließlich der Kutscher von hier aus inszeniert, nicht kennt.
Am Schluss deutet sich (zwischen Ellen und Jan) eine Liebesgeschichte an, die von den Kriegswirren sofort zunichte gemacht wird, bevor sie beginnen kann. Ellen ist kein Kind mehr. Wie viel Zeit vergeht in „Die größere Hoffnung“?
Der Roman beschreibt in zunehmender Beschleunigung den Zeitraum seit dem sogenannten Anschluss (1938) über die großen Deportationswellen (1942/43) bis zum Ende des Krieges (1945). Es sind so lange Jahre, dass Ellen in dieser Zeit vom spielenden Kind zur zaghaft verliebten jungen Frau heranwächst.
Dass Ellen inmitten der Bomben und des Sterbens von einer Zukunft in ‚normalen‘ Umständen träumt und dass sie in den Spuren des abgebrochenen ‚normalen‘ Lebens eine Anknüpfungsmöglichkeit für einen eigenen Neuanfang sieht (wenn sie in der verlassenen Wohnung Tee kocht und Essen zubereitet und von Himbeereis träumt) bezeugt den menschlichen Lebenstrieb – der vom realen Kriegsgeschehen dann allerdings ausgelöscht wird.
Es vergeht Zeit und zugleich gibt es im Krieg „kein Später“, wie Ilse Aichinger schreibt. Welche Formen von Zeit und Zeitlichkeit sehen Sie in „Die größere Hoffnung“?
Aichinger hat lange Jahre nach Kriegsende ein Gedicht geschrieben, in dem sie fragt „Ihr Lieben, wie lange dauert die Zeit?“; einem anderen späteren Text von ihr gibt sie den Titel „Vor der langen Zeit“ und meint damit die Zeit vor dem Krieg und den Verfolgungen. Die Erfahrung, dass diese Zeit scheinbar unendlich lange anhält, dass kein Ende absehbar ist, keine Bewegung, keine Entwicklung, und dass sich dennoch das Sterben und der Untergang beschleunigen, bringt der Roman in seiner zunehmenden Dynamisierung des Tempos, der Abläufe, der Bewegungen zum Ausdruck. Während die Kinder am Beginn am Kai sitzen und warten, ist Ellen am Schluss nurmehr in rasendem Lauf unterwegs.
In Interviews über das Schreiben spricht Ilse Aichinger von ihrer Suche nach Genauigkeit. Auch „Die größere Hoffnung“ thematisiert das Bedürfnis sprachlich „genau“ zu sein. Können Sie Aichingers Begriff für uns erklären?
Genauigkeit meint für Aichinger eine nicht-beschönigende Sprache. Also nicht so tun, als ob man nicht weiß, wofür der Stern steht – die Erwachsenen wagen es nicht auszusprechen, die Kinder tun es einfach, wenn sie sagen, der Stern bedeutet den Tod. Wenn man es ausgesprochen hat, kann man sich damit auch auseinandersetzen, ja, das, wovor man sich fürchtet, auch ad absurdum führen, wie in der Szene, wo von der Angst der Gestapo die Rede ist und die Kinder argumentieren, die Angst vor der Angst – das hebt sich auf.
Eine andere wichtige Haltung ist die des Misstrauens. Wie ist das zu verstehen?
In Aichingers berühmtem „Aufruf zum Misstrauen“ plädiert sie dafür, nicht den anderen aus Prinzip zu misstrauen, sondern zuerst einmal die eigene Einstellung zu prüfen, d.h. eher selbstkritisch zu sein als die Fehler bei anderen zu suchen. Es ist ein für Aichinger typischer pragmatischer Ansatz, durch den viele Konflikte vermieden werden könnten.
Inwiefern ist Aichingers Schreiben ein Anschreiben gegen eine herrschende oder beherrschende Sprache?
Aichinger ist keine Mitläuferin, die Moden aufgreift und weiterträgt oder die gängigen Ideologien aufsitzt. Sie ist nüchtern, rational, unpathetisch, befragt den Gebrauch der Sprache und enthüllt ihren Missbrauch. Insofern verweist sie immer wieder auf den Zusammenhang von Sprache und Macht.
Christine Frank ist Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin (Vertretung von Peter-André Alt) und Dozentin an der Universität Wien.